Während der Saison 2003/04 wollte ich mal eine Geschichte über Herthas komplizierte Fanbasis schreiben. Eines von vielen Projekten, die nicht über ein fragmentarisches Anfangsstadium hinausgewachsen sind. Ich hatte zu diesem Zweck bereits mit einigen Fanvertretern gesprochen, auch mit einem von Herthas Fanbeauftragten. Und mit dem damaligen Chef der Harlekins, Kay Bernstein. Ich hatte sogar mit einer Einleitung angefangen, im November 2003, als Hertha nach erklecklichen Jahren mal wieder tief im Abstiegssumpf steckte. So fing der Text an:
Berlin tut sich schwer mit seiner neuen Rolle als bundesrepublikanische Kapitale, samt Regierungssitz, Schuldenberg und allem Pipapo. Dabei wird der Spreemetropole von allen Seiten attestiert, genügend Pfunde zu haben, mit denen sich wuchern ließe. Ganz ähnlich geht es dem Hauptstadtklub Hertha BSC, der auch so seine Schwierigkeiten mit der Identitätsfindung hat. Von Kaiser Franz und Konsorten immer mal wieder als „schlafender Riese“ apostrophiert, schlingert die „Alte Dame“ seit dem Wiederaufstieg zwischen ambitionierten Zielen und ernüchternder Realität. Fakt ist: Mit der Installation eines professionellen Managements auf Betreiben des Vermarkters Ufa Mitte der neunziger Jahre haben wirtschaftliche Solidität und sportliche Kontinuität das Image vom provinziell geführten Skandalklub einigermaßen verdrängt. Fakt ist aber auch: Ein neues, vielleicht sogar positiv gewendetes Image sucht man bislang vergebens – bestenfalls wird Hertha als profilneurotischer Emporkömmling wahrgenommen, schlimmstenfalls schlichtweg ignoriert.
Vielleicht liegt es ja daran, dass sich selbst Herthas Anhängerschar nicht ganz sicher ist, wohin die Reise denn nun gehen soll. Spricht man Herthas offiziellen Fanbeauftragten Andreas Blaszyk auf seine Klientel an, erhält man als Antwort zunächst einen vielsagenden Seufzer. Dann verweist der vierfache Familienvater auf die berühmte Berliner Laubenpiepermentalität, ohne sie beim Namen zu nennen: Hier koche nun mal jeder gern sein eigenes Süppchen und anstatt eines Fanklubs würden lieber gleich vier gegründet, weil man so den Nasen, die man eh nicht abkann, besser aus dem Weg gehen könne ...
Weiter bin ich nicht gekommen. Immerhin habe ich im April 2004 mitgeholfen, einen zusätzlichen Fanklub ins Leben zu rufen, Herthaunser. Klein, elitär, anonym. Aber das ist eine andere Geschichte.
Einige Monate vorher, Ende 2003, bin ich Kay Bernstein zum ersten Mal begegnet. Ich glaube, es war im Haus der Berliner Fußballkulturen. Ich vermute, dass ich mein Projekt vage umrissen habe. Dass ich mir zunächst einen Überblick über verschiedene Fanvereinigungen verschaffen wolle. Dass ich nicht unvoreingenommen sei, da selbst Herthafan. Und dass ich gerne etwas über die Harlekins resp. Ultras erfahren würde. Ihr Selbstverständnis, ihr Verhältnis zum Verein, zu den anderen Herthafans.
Aus mir unbekannten Gründen sind von dem Treffen, warum auch immer, keine Aufzeichnungen überliefert. Ich erinnere mich, dass ich Kay Bernstein als offen und selbstreflektiert wahrgenommen habe, er war selbstbewusst, ohne überheblich zu sein. Kay hatte Charisma, schon damals. Aber wenn mir einer gesagt hätte, der wird mal Hertha-Präsident, hätte ich es dennoch kaum für möglich gehalten.
Ein knappes halbes Jahr später sind wir uns ein weiteres Mal begegnet. Beim Auswärtsspiel in Mönchengladbach, das letzte Mal auf dem alten Bökelberg. Er hat mich freundlich begrüßt, wir haben uns die Hände geschüttelt, uns auf das bevorstehende Spiel gefreut. Wirklich ein netter Kerl, dachte ich mir. Danach habe ich Kay nur noch aus der Ferne wahrgenommen, als Vorsänger der Ostkurve. Irgendwann war auch das Geschichte.
Als ich fast zwanzig Jahre später zum ersten Mal hörte, dass Kay Bernstein Präsident von Hertha BSC werden will, hielt ich das für einen Witz. Als ich seine ersten Statements vernahm, war ich interessiert, nach den ersten Interviews überzeugt, dass er und kein anderer der Richtige ist. Als Kay Bernstein tatsächlich gewählt wurde, fühlte ich mich meinem Verein so verbunden, wie vielleicht noch nie zuvor.
Ich will nicht glauben, dass er nicht mehr unter uns ist. Ich bin sicher: Sein Geist, sein unglaublicher Spirit, sein positiver Enthusiasmus werden uns immer erhalten bleiben. Danke für alles, Kay Bernstein.