Wenn St. Pauli oder Union oder von mir aus auch Tennis Borussia die wenig originelle aber immerhin überraschende Niederknien-machen-wir-auch-Idee gehabt und umgesetzt hätte, wäre die Stilkritik sicher gnädiger ausgefallen. International gab es durchaus Beifall für die unerwartete Soli-Adresse der Alten, aber die hiesigen Kommentaristi, von Knatter-Boulevard bis Super-Seriös, rümpften wenigstens das Näschen und monierten zumindest ein Gschmäckle. Aber ob nun „Eitel und dumm“ (Bild) oder „gefälschtes Pathos“ (SZ), Hertha hat den Lohn in jener Währung erhalten, die vermutlich beabsichtigt war: Aufmerksamkeit. Schnöde aber wahr. Das alleine verdient aus meiner blau-weissen Sicht Respekt, denn in der Aufmerksamkeitstabelle dümpelt Hertha laut verbreiteter Meinungsmache ziemlich weit hinten. Dafür Daumen rauf, auch wenn mir ein Sieg gegen den Lieblingsgegner (O-Ton Förderkreis Ostkurve!) noch lieber gewesen wäre. Aber weil Hertha eben Hertha und nicht der FC Sankt Megakult ist, gibt es hierzulande für diesen kleinen aber feinen PR-Coup keinen medialen Applaus, sondern vor allem eifrig bemühte Schelte, haltlose Vorwürfe und kleinkarierte Belehrungen. Ich habe nicht alles was zur Causa Kniefall gesagt und geschrieben wurde gelesen und gehört, von daher mag mein soeben geschilderter Eindruck auf persönlicher Selbsttäuschung beruhen. Falls das so sein sollte, zitiere ich hier noch, statt Asche auf mein Haupt zu streuen, den versöhnlichen Schlusssatz eines unerwartet wohlmeinenden Kommentars in der „Welt“, der da lautet: „Der Kniefall war eine gute Sache und tut auch ihrer Marke (gemeint ist tatsächlich Hertha, d. Autor) gut, denn ganz Amerika weiß jetzt, dass Hertha nicht nur ein deutscher Frauenname, sondern auch ein Fußballverein ist.“ Na, wer sagt’s denn. Ich fühle es schon kommen: In ziemlich naher Zukunft liegt halb Amerika (Nord) in den Wehen und viele kleine Herthas erblicken laut krakeelend das Flutlicht der Welt – so wie anno dazumal ungezählte Waldemars in sportbegeisterte DDR-Familien hineingeboren wurden. Für alle, die den Gag nicht verstehen: Füttert Eure Suchmaschine mal mit „Waldemar“, „DDR“ und „Marathon“. Zur Belohung gibt es einen Bonuspunkt in der Kategorie unnützes Wissen.
Wo wir gerade bei Experimenten sind: Ich führe gerade ein soziales Experiment durch, nennt sich Fußball ohne Bier. Wobei Bier in diesem Fall stellvertretend für Alkohol, genau genommen sogar für sämtliche Drogen steht. Also alles, was einen Fußball-Nachmittag, abgesehen von Hertha, so ungemein attraktiv erscheinen lässt. Fußball ohne Zusatzstoffe ist für mich nicht ganz ungewohnt, ich faste ja seit einiger Zeit im Frühjahr, aber zu Saisonbeginn befinde ich mich normalerweise voll im (Gersten-)Saft. Keine Sorge, mit meiner Leber ist soweit alles okay, auch sonst wurden mir keine nennenswerten Ausfälle oder Auffälligkeiten attestiert, wobei man sich da nie sicher sein kann, zumal, wenn die Kollegen ähnlich angetütert unterwegs sind. Unfassbar banal: Mir ist ein bisschen die Lust am Saufen abhanden gekommen, so seltsam das klingen mag. Gleichzeitig empfinde ich es als Herausforderung, dem inneren Streben nach Konformität (äääh?!) so lange wie möglich zu widerstehen. Ich habe mir diesmal kein Limit bzw. Datum gesetzt, bis Bilbao (23. 11.) will ich es aber durchziehen. Danach geht es gen Kölle (26. 11.) und dort werde ich mir eine Auszeit von der Abstinenz gönnen. In so einem Kölschbecher ist schließlich nicht viel drin.
Hoffe nur, dass Hertha mich bei meinem Vorhaben so gut als möglich unterstützt. Letzten Samstag z. B. hätte ich mir gut vorstellen können, das Gekicke nicht mit vollem Bewusstsein erleben zu müssen. War so ziemlich das Miserabelste, was ich seit langem von der Alten gesehen habe. Aber es lohnt sich nicht, da noch weiter drauf rumzureiten; einfach Mund abputzen und dann geht es schon wieder weiter. Das ist ja das Schöne: Wenn man in Europa unterwegs ist, muss man sich nicht lange mit Pleiten, Pech und Niederlagen beschäftigen, sondern kann sich flugs ins nächste Abenteuer stürzen. Allzeit breit, hätt ich fast gesagt.